Oft öffnet sich der Blick für Perfektion erst in der Rückschau. Beim Volkswagen 412 ist das nicht anders. Im Gegenteil: Durch die Brille der Jetzt-Zeit betrachtet, handelt es sich beim 412 zweifellos um die technisch höchste Entwicklungsstufe des klassischen Käfer-Antriebskonzepts, das sich schlagwortartig mit den Eckdaten „luftgekühlter Boxermotor hinter angetriebener Hinterachse“ zusammenfassen lässt.
Allerdings hat Volkswagen der 4,55 Meter langen, wahlweise zwei- oder viertürigen, „Typ 4“ genannten Limousine, die wenig später auch als Kombiversion „Variant“ erscheint, anders als noch beim Typ 3 ein modernes Fahrwerk und erstmals eine selbsttragende Karosserie spendiert, die ohne Rahmen und Mitteltunnel auskommt.
Kernig daherbrüllender Boxer-Sound: In Bewegung versetzt wird dieses Technikpaket de luxe von einem zunächst auf 1.679 ccm Hubraum aufgebohrten Flachboxermotor, dessen in bester Porsche-Manier kernig daherbrüllender Sound wahren Kennern automobiler Klassik bis heute die Nackenhärchen aufstellt. Er bringt es anfangs auf 59 kW (80 PS), ab 1973 als 1,8-Liter-Aggregat auf 55 kW (75 PS) bzw. als S-Ausführung auf 63 kW (85 PS) Leistung.
Ursprünglich angetreten war der Typ 4, der – der numerischen Logik der Modellbezeichnungen der Marke folgend – offiziell auf die Verkaufsbezeichnung „411“ hörte, um als „Großer Volkswagen“ das Tor ins Fahrzeugsegment der gehobenen Mittelklasse aufzustoßen. Das Problem: In dieser Klasse tummelten sich seinerzeit bereits die Modelle einiger US-Wettbewerber, die vielen Zeitgenossen auf den ersten Blick wohl attraktiver erschienen.
Modernes Facelift mit brasilianischen Anleihen
Für das Modelljahr 1973 verordnet Volkswagen Chef Rudolf Leiding dem 411 daher eine Modellpflege im Stile des von ihm höchstpersönlich mitentworfenen und sportlich-schönen brasilianischen Coupés Volkswagen SP2. Ein Facelift im wortwörtlichen Sinne, das dem nunmehr „412“ genannten Modell eine flache Schnauze nach Vorbild des rassigen Brasilianers einbringt. Der durchaus liebevoll gemeinte Kosename „Nasenbär“ für den Volkswagen 411 ist damit passé.
Das Markenemblem findet sich fortan auf der nunmehr stärker abfallenden Vorderhaube statt zentral auf dem Frontblech. Die Doppelscheinwerfer finden jetzt in rechteckigen statt ovalen Rahmen ihren Platz. Holzmaserungsimitat auf der Armaturentafel versprüht optische Eleganz und Wertigkeit. Auch die Heckpartie des 412 wird im Zuge der Modellpflege überarbeitet: Die Rückleuchten sind nun höher angeordnet.
„Wie modern er außen ist“, betont der zeitgenössische Volkswagen Verkaufsprospekt gleich eingangs. Das Erscheinungsbild des neuen Typ 4 „Es gibt heute einen deutlichen europäischen Stil in der Autogestaltung, und wir haben den VW 412 gern dieser Entwicklung angepaßt. Ein Wagen dieser Klasse verlangt nicht nur, daß man technisches Geschick in ihm investiert, sondern auch Geschmack auf dem zeitgemäßen Niveau.“
Auch die Werbung setzt auf die neue Optik des bekannten Modells. Nicht von ungefähr lautetet der Slogan der Stunde: „Ein neues Gesicht bei VW. Und seine Variante.“ Trotz der umfassenden gesichtskosmetischen Maßnahmen wird aus dem Fahrzeug, das ab August 1972 als Volkswagen 412 das deutsche Straßenbild bereichert, keine rassige Sportlimousine.
Ab August 1973 ersetzt ein Doppelvergaser die elektronische Einspritzanlage von Bosch, die maximale Motorleistung beträgt nun 85 PS (63 kW), was 150 D-Mark extra kostet.
„Der VW 412 sieht modern aus, ohne daß er modisch wäre. Denn VWs haben immer Modernität als Ziel, nie Moden.“
„Den VW 412 lieben.“
Der Volkswagen 412 wird bewusst als modernes und hochwertiges Fahrzeug für gehobene Ansprüche positioniert. Ob als Geschäftsfahrzeug oder Familiengefährt, als „Luxuslimousine für Reiselustige“ oder als Variant für „Unternehmungslustige“ – der 412 steht auch für Vielseitigkeit in der gehobenen Mittelklasse.
Ein Auto mit Aussage, wie der Verkaufsprospekt von 1973 auch in aller Bescheidenheit zusammenfasst:
„Denn manchmal geht Liebe durch den Wagen.
Der VW 412 spricht für Sie (sogar mehr, als sie selbst sagen könnten):
Er sagt, daß Sie einen sehr guten Geschmack haben. Und daß Sie viel von moderner Technik verstehen.
Er sagt, daß Sie Zuverlässigkeit und Wirtschaftlichkeit schätzen. Daß Sie aber auch sehr anspruchsvoll sind und sich gern verwöhnen lassen.
Er sagt, daß Sie es im Leben zu etwas gebracht haben. Und daß Sie gewohnt sind, Erfolg zu haben.
Auch dann, wenn Sie einmal nicht eine neue Firma gründen wollen. Sondern eine Familie.“
Paradigmenwechsel: Der Passat wirft seine Schatten voraus
Zur Zeit des Modellwechsels hin zum 412 wirft jedoch bereits der Passat seinen übergroßen Schatten voraus, mit dem schließlich der aus produktionstechnischen und wirtschaftlichen Gründen überfällige Paradigmenwechsel hin zum wassergekühlten Frontmotor vollzogen wird. Mit seiner Premiere im Jahre 1973 nimmt der Passat B1 das in seinen Grundzügen bis heutige gültige Konstruktions- und Fertigungsprinzip jedes „modernen“ Volkswagen vorweg.
Dem 412 ist kein langes Modell-Leben beschieden: Der Typ 4 muss im Werk Wolfsburg bald dem heutigen Übervater aller Mittelklassemodelle weichen. Im August 1973 wird die Produktion des 412 von Wolfsburg ins Volkswagen Werk Salzgitter verlagert, ehe dort schließlich im Juni 1974 die Fertigung ganz eingestellt wird. Somit verlässt das technisch wohl aufwendigste Volkswagen Modell, das je nach dem klassischen Volkswagen Konstruktionsprinzip gebaut wurde, nach nur zwei Jahren die große automobile Bühne, auf der ihm Zeit seines Modell-Lebens der ganz große Applaus verwehrt blieb.
Erhaltene Exemplare des Volkswagen 412 haben angesichts einer für Wolfsburger Maßstäbe überschaubaren Gesamtauflage von 355.200 Exemplaren heute eher Seltenheitswert – und sind unter Volkswagen Klassiker-Fans entsprechend begehrt. Insofern scheint es nur angemessen, dass der Volkswagen 412 heute der heimliche Star so mancher Klassiker-Ausfahrt oder -Rallye ist und dabei die endlich geschenkte Aufmerksamkeit sichtlich genießt.