Denkt Emil Pommer an das Jahr 1970 zurück, muss er lächeln. Während seine Hände Seite für Seite des Fotoalbums umblättern, verharren seine Augen auf einer Seitenansicht des ersten Experimental-Sicherheitsfahrzeugs von Volkswagen, dem ESVW I: „Der sah doch verdammt gut aus!“
Stimmt: Was Pommer und 79 weitere Ingenieurskollegen ab Herbst 1970 unter der Leitung von Volkswagen Forschungschef Prof. Dr. Ernst Fiala auf die Räder stellten, hatte Gesicht. Nämlich das von umfassender Sicherheit bei gleichzeitiger Alltagstauglichkeit. „Der Wagen war eine komplette Neukonstruktion“, sagt Pommer, dessen Hauptaufgabe das „Machen“ des ESVW-Vorderwagens war. „Ziel war es, die Kompetenz von Volkswagen auf dem Fahrzeugsicherheits-Sektor unter Beweis zu stellen – und dies unter den extremsten Bedingungen, die man sich seinerzeit denken konnte: den US-amerikanischen Sicherheitsvorschriften.“
Safety first: USA is calling
Warum besonders die USA Wert auf immer mehr Sicherheit im Auto legten, erklärt die Zahl von 65.000 Verkehrstoten im Jahr 1965. Engagierte US-Politiker und Ingenieure entfachten einen wahren Wettbewerb unter nationalen und eben auch internationalen Automobilherstellern. Die von der amerikanischen Sicherheitsbehörde NHTSA (National Highway Traffic Safety Administration) an die Adresse der gesamten Automobilindustrie gerichtete Aufforderung zum Bau eines Experimentier-Sicherheits-Fahrzeuges nahm Volkswagen im Herbst 1970 an. Längst nicht alle Experimental Safety Vehicles (ESV) waren alltagstauglich, viele „nur“ Technikträger. „Bei unserem ESVW I haben wir vom Start des Projektes weg auf eine ganzheitliche Lösung Wert gelegt“, erzählt Emil Pommer. Auchwenn der ESVW I primär zur Entwicklung von Systemen und Komponenten diente – und vor allem zu deren Integration in zukünftige Serienfahrzeuge.
1972 wurde der ESVW I schließlich auf der Internationalen Sicherheitskonferenz (International Vehicle and Highway Safety Conference) in Washington im Rahmen der Transpo 72 (U.S. International Transportation Exposition) präsentiert. Insgesamt zwölf verschiedene Exponate zeigte die internationale Ausstellung für experimentelle Sicherheitsfahrzeuge auf der Transpo 72, die vom 27. Mai bis 4. Juni 1972 stattfand. Hier ist der Wolfsburger ESVW I nicht nur der erste seiner Art eines Automobilherstellers außerhalb der USA, sondern eben auch ganzheitlich funktional.
Massive Sicherheit
Herzstück des 4,73 Meter langen Wagens ist seine massive Karosserie-Sicherheitsstruktur: Hochfeste Stoßstangen an Front, Heck und auch seitlich – Letztere „unsichtbar“ in die Türen integriert – verteilen die Kräfte bei einem Aufprall auf eine zweite Zone, die nachgiebig und energieabsorbierend ausgebildet ist. Die abstützenden Kräfte liefert die dritte Zone, die aus einem hochfesten „Fachwerkrahmen“ besteht und die unverletzliche Fahrgastzelle darstellt. Auch die ergonomisch ausgeprägten Sitze mit Querträgern zwischen B- und C-Säule sind integrierter Bestandteil des Rahmens und tragen bei Seitenaufprall wesentlich zur Steifigkeit bei. Vorne und hinten sorgen in Längsträgerrichtung hinter den massiven Stoßstangenmontierte hydraulische Absorber für zusätzlichen Schutz. So absolvierte der ESVW I sämtliche Crashtests nach US-Norm mit Bravour.
Neu waren auch das Sicherheits-System aus vollautomatischen Knie- und Schultergurten, die verstellbare Lenkung nebst Pedalen, Zweikreis-Bremssystem mit ABS, der Einarm-Wischer mit maximalem Wischfeld, Scheinwerferreinigungsanlage, vier Bremslichtersowie Bremskraftregler vorn und hinten. „Auch die Bremstests bestand unser ESVW I mit Bravour“, erinnert sich Emil Pommer, „sowohl nach US- als auch nach deutscher VDA-Spezifikation.“
Am Ende dokumentierten 14 Crashversuche mit der ESVW I-Fahrgastzelle, unzählige Handlings- und Ausweichversuche und 40 Crashtests mit Serienfahrzeugen, die mit ESVW I-Sicherheitskomponenten ausgestattet waren (u. a. VW K 70 und VW 411, Audi 100), die Innovationskraft von Volkswagen. Der Wagen erfüllte sämtliche US-Normen – oder übertraf sie signifikant. „Die Amis haben ganz schön geguckt“, freut sich Emil Pommer noch Jahrzehnte später über diesen Erfolg.
Übrigens betrieben die Volkswagen Ingenieure von Anbeginn auch eine Nutzen-Kosten-Analyse, um zu beweisen, dass der ESVW I auch in Einzelkomponenten hätte in Serie gebaut werden könnten. „Die Übertragung von Forschungs- und Versuchsergebnissenauf Serienfahrzeuge war immer der Leitstern unseres Engagements“, sagt Pommer. Daran hat sich bei Volkswagen bis heute nichts geändert.
Technische Daten
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ESVW I
Baujahr: 1971/1972 Motor: Vierzylinder-Boxermotor, luftgekühlt Max. Leistung: 73 kW (100 PS) Hubraum: 1.970 ccm Beschleunigung: 50–110 km/h in 15,3 s Höchstgeschwindigkeit: 150 hm/h