Es ist die Vorstandssitzung vom 25. Mai 1970, die die damalige Situation bei Volkswagen mehr als deutlich macht. Auf der Agenda stehen die Verkaufszahlen des Käfers, die sich in stetem Sinkflug befinden – nach einem Jahrzehnte währenden Welterfolg. Doch dessen Ende ist absehbar. Auch wenn der Höhepunkt des Käfers als meistverkauftes Automobil aller Zeiten erst noch bevorsteht – am 17. Februar 1972 –, zeichnet sich das Ende des tradierten Volkswagens bereits ab.
Im Protokoll erwähnter Vorstandssitzung liest sich das erschreckend und nüchtern zugleich: „Typ 1 gefährdet durch Alter, stärker werdende Konkurrenz und durch absehbare US-Vorschriften zu Abgas, höheren Stoßstangen, Beschleunigung.“ Eine Wahrheit, vor der auch die hartgesottensten Anhänger des braven Käfers nicht die Augen verschließen können – zumal dann, wenn sie mit Vorstandsaugen über das Wohl von Werk und Mitarbeitern wachen sollen. Etwas Neues also muss her. Soll her. Kann das ein anderes Auto schaffen? Nein. Selbst nur ein Volkswagen kann es nicht. Aber – mehreren könnte es gelingen …
„Klar“, werden da viele rufen: „Golf!“ Jein, liebe Volkswagen Gemeinde, jein: Denn weil es „den“ Käfer nicht gab, da er gleich mehrere Marktsegmente abdeckte – vom Spar-Käfer bis zum 1303 LS mit Luxus-Attitüde –, durfte sein Erbe auf keinen Fall nur auf vier neue Räder geladen werden. Getreu dem Motto „Aller guten Dinge sind drei“ setzt Volkswagen zunächst auf – richtig – den Golf oder vielmehr die Entwicklung des Modells, aus dem der spätere Markterfolg hervorgehen sollte: mit quer eingebautem Frontmotor, Wasserkühlung, Vorderradantrieb. Zweiter Stützpfeiler soll der Entwicklungsauftrag (EA) 266 werden, mit Unterflur-Mittelmotor. Ihn verwirft im Oktober 1972 der neue Vorstandsvorsitzende Rudolf Leiding. Warum? Zu teuer in der Herstellung, und er passt nicht ins neue Konzept à la Golf. Sehr wohl jedoch passt der ganz neue, ganz kleine Volkswagen, der 1975 so stimmig die Runderneuerung des Volkswagen Modellprogramms abschließt: der Polo.
Der heißt 1969 natürlich noch nicht so, als die Verantwortlichen bei Volkswagen unter Leidings Vorgänger, Vorstandschef Dr. Kurt Lotz, die Neubesetzung des unteren Modellsegments planen. Da gibt es zunächst einmal eine akribische Wettbewerbsanalyse. Viele Konkurrenten waren dem Käfer auf den runden Pelz gerückt, teilweise mit tollem Markterfolg. Das will Wolfsburg nicht tatenlos mitansehen und gibt einen völlig neuen kleinen Kompakten in Auftrag.
Von Anfang an mit im Boot: Audi NSU mit seinem Entwicklungsvorstand Dr. Ludwig Kraus. Der hatte mit dem Audi 60 einen stabilen Erfolgsfaktor geschaffen, der große Audi 100 folgte, und schon arbeitet man in Ingolstadt am brandneuen Audi 80. Dessen Design bestimmt ein junger Mann namens Hartmut Warkuß. Auch ihn holt Ludwig Kraus in sein Team, das in enger Kooperation mit Wolfsburg die Grundzüge eines neuen Kompakten in der unteren Fahrzeugkategorie A-Null kreiert. Während ein erster Designentwurf von Audi NSU durchfällt, sitzt der zweite Wurf bereits ziemlich perfekt: Warkuß hat um das Package von Ludwig Kraus eine zeitlos-filigrane Form gezeichnet, der seitliche Aufschwung der Gürtellinie ist der berühmte Spritzer Bertone.


Bei Neuentwicklungen muss man den richtigen Ton treffen – man verzeihe dieses Wortspiel, doch es trifft den Kern der Sache: früher Polo Entwurf mit lang auslaufender C-Säule, trapezförmigen Seitenscheiben sowie leicht gepfeiltem Bug mit erhabener Sicke in der Motorhaube.
(Bilder mit freundlicher Genehmigung des Unternehmensarchivs © AUDI AG)

Für den kleinen Sprössling existierten diverse Schalttafel-Entwürfe. Hier die Variante mit klaren geometrischen Formen. Interessant: Die Radio-Lösung wurde exakt so beim Facelift des Polo (1979) realisiert, auch der Rest wird inspirierend nachgewirkt haben.

Die augenscheinlich italienisch angehauchte Cockpit-Variante. Kommt den Grundzügen des ersten Serien-Cockpits in vielen Details nahe.

In dem Extrahäuschen säße heute der Navi-Bildschirm statt Luftdüsen.

Und so sah die Serie aus. Kennen die Kenner, die den Polo I noch kannten.

Zwischenschritt: der spätere Polo, hier als sogenanntes „Mock-up“ (nicht fahrbereite Designstudie) mit bündig abschließenden Stoßstangen und alternativen Heckleuchten. Beachtenswert: Zwar ist die Seitenlinie noch gerade, das Heckfenster ist jedoch bereits mit Knick versehen. Ein Detail …

… welches sich jedoch am späteren Prototyp nicht wiederfindet. Im Gegenteil – jetzt ist die Fensterlinie schnurgerade. Die Stoßstangen reichen weit um die Karosseriekanten herum – in der Serie waren die Kunststoffkappen deutlich kürzer.

Dieselbe Studie wie zwei Bilder zuvor, nur in Dreiviertel-Frontansicht. Deutliche Sicke in Hüfthöhe, Breitbandscheinwerfer. Felgen und Radkappen noch von NSU. Angedeuteter runder Deckel für Zwangsentlüftung in C-Säule.

Aha! Ein Polo! Als Audi 50 verkleidet, aber schon sehr seriennah. Rundscheinwerfer, kräftig-breite Spur (viel breiter als im vorigen Bild), deutlich andere Zwangsentlüftungslösung durch horizontale Schlitze in der C-Säule. Spannend!

Ein Volkswagen! Alternativer Entwurf für den Polo zur Diversifizierung innerhalb des Konzerns. Links: Serien Audi 50.

Wettbewerbsvergleich der Polo Designalternative. Hier Heckansicht mit angeschrägten Heckleuchten.

Autsch, ein Knautsch! Sicherheit geht vor – dafür muss auch schon mal ein handgearbeiteter Prototyp dran glauben.

Tusch, bitte: die Serie! Polo I auf einem offiziellen Pressefoto.

Serie! Fast! Aufsteigende Fensterkante, Bertone-Bürzel in der Hüftlinie – und Beklebungen für das Sondermodell „Polo Jeans“.

Auch am Heck ist „die Cowboy-Hose“ schon zu erkennen.

Ja, passt! Dekorstudie für den niemals in Serie gegangenen Polo TT. Schade.

Kaum auf dem Markt, wird schon wieder eifrig geändert: Stylingmodell für Polo Facelift von 1976 mit voluminöserem Grill und aerodynamisch verfeinerten Stoßfängern aus Kunststoff.

Und das Ganze hat auch eine Heckansicht. Womit auch der Polo Bilderreigen seinen Abschluss findet.
Der „Kleine“ EA 329 – als Audi und Volkswagen
Das Layout ist modern: Two-Box-Design, also nur Motor- und Fahrgastraum, kein separates Limousinen-Gepäckabteil (das heißt ab 1978 Derby), sondern eine kompakte All-in-one-Lösung mit weit aufschwingender Heckklappe und umklappbarer Rücksitzbank. Zusätzlichen Schwung erhält das Projekt des intern als EA 329 bezeichneten Kleinwagens mit dem Dienstantritt von Rudolf Leiding bei Volkswagen. Leiding, ehemals Vorstandschef bei Audi, kennt Ludwig Kraus bestens, zwischen den beiden stimmt die Chemie. Schnell ist ausgemacht: Der „Kleine“ EA 329 kommt sowohl als Audi als auch als Volkswagen! Und er deckt das Kundenspektrum von sparsam bis luxuriöser ab, als Sparringspartner des Golf (und anfangs auch noch des Käfers).
Der Golf wird parallel für das A-Segment entwickelt und geht 1974 in Serie, wie auch die Audi 50 getaufte Variante des neuen kleinen A-Null Volkswagen. Beide sind gut in Form und treffen mit ihren kompakten Karosserien nebst praktischen Heckklappen haargenau den Zeitgeist. Agilität, sehr gutes Fahrverhalten sowie wirtschaftliche Motoren sind die neuen Kerntugenden, die das positive Bild bestimmen.
Nach solcherart leichtem Vorsprung debütieren am 13. März 1975 auf dem Genfer Automobilsalon schließlich der Polo N (900 ccm/40 PS) und der Polo L (luxuriösere Ausstattung). Gleichzeitig laufen in Wolfsburg die Produktionsbänder an, sodass bereits im Mai die ersten Kunden ihren neuen Polo in Empfang nehmen können. Das Auto verkauft sich vom Start weg gut, der größere Golf hat bereits beste Vorarbeit bei den Kunden geleistet. Passat, Scirocco, Golf und Polo sind komplett – und damit eine ganz neue Modellfamilie, die nur wenige Jahre zuvor als beinahe undenkbar gegolten hätte. Der Polo rundet die Familie harmonisch nach unten ab.
Mit dem Polo sei die bisherige „Käfer-Klasse“ perfekt abgedeckt, urteilt die damalige Fachpresse. „Der Neuling komplettiert das Konzern-Angebot hochmoderner Kompaktautos“, schreibt beispielsweise auto, motor und sport über den neuen Sympathie-“Zwerg“ von Volkswagen, der sich schnell zum beliebten Pfiffikus auf Rädern mausert. Man kann es auch technokratischer sagen: Die „Schlagkraft des Konzerns im Economy-Bereich“ (ams) sei nachhaltig gestärkt worden – auch richtig. Und dann eben auch noch auf die denkbar sympathischste Weise.
Der kleine Polo. Ein ganz Großer.